Vortrag „Diskriminierung, Zwangsausbürgerung, Deportationen und Völkermord“ - DE

Die 100. Jährung der Lausanner Verträge von 1923 und die anschließende Gründung der Republik Türkei, ebenso aber auch die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten bieten Anlass, über elementare Grundsätze nachzudenken. Bietet ethnische, religiöse und kulturelle Einheit eines Staates wirklich Sicherheit und Stabilität? Welche Folgen besitzen Segregation, also so genannte Entmischung bisher multiethnischer Gesellschaft? Welche Methoden wurden und werden dabei angewendet? Wie wir feststellen müssen, handelt es sich nicht um ein rein historisches Thema. Was damals schon völkerrechtswidrig war, ist es auch heute noch. Dieser Vortrag vermittelt einen Überblick über die schwersten Verletzungen des Völker-, Minderheiten- und Menschenrechts im Gefolge des Lausanner Vertrags von 1923.

Nachdem die kemalistische Armee im Herbst 1922 die Städte Smyrna und Konstantinopel eingenommen hatte, kam es am 11.10.1922 zum Waffenstillstandsabkommen von Mudanya, gefolgt vom Beginn der Lausanner Friedenskonferenz.

Mit der bilateralen Konvention über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, die einen asymmetrischen und zwangsweisen Bevölkerungs“austausch“ religiöser Minderheiten enthielt, verwirklichte die Türkei einen bereits zehn Jahre zuvor gefassten Plan, den sie damals mit Griechenland allerdings noch nicht abschließen konnte. Den Hintergrund bilden die beiden Balkankriege von 1912 und 1913, die der deutsche Militärhistoriker und Experte für Vertreibungen, Michael Schwartz, als Geburtsstunde eines breit angelegten "ethnischen" Krieges mit massiven Flucht- und Vertreibungsprozessen ansieht. Solche umfangreichen Vertreibungen waren bis dahin in Europa unbekannt. Die Vertreibung unerwünschter ethnischer Gruppen habe, so Schwartz, bei den Balkankriegen als vorgeplantes Hauptziel gedient1.

Nach dem türkisch-griechischen Krieg von 1919-1922 gewann die Idee des Bevölkerungs“austausches“ in großem Umfang an Aktualität. Die Idee, Menschen in gewaltiger Anzahl über die Ägäis mit der Zustimmung der Weltgemeinschaft zu verschieben, wurde in fast gleichem Maße von dem exilierten ehemaligen griechischen Regierungschef und Verhandlungsleiter in Lausanne, Eleftherios Venizelos, unterstützt, wie auch von Mustafa Kemal und seinem militärischen Befehlshaber Ismet Inönü, von dem britischen Außenminister George Curzon und von dem Norweger Fridtjof Nansen. Von Nansen stammt der Grundsatz, wonach Flüchtlingshilfe eine Verpflichtung für die gesamte Weltgemeinschaft darstellt2. Als Flüchtlingshochkommissar des Völkerbundes vermittelte Nansen aktiv zwischen Venizelos sowie der kemalistischen Führung und erreichte am 22. Oktober 1922 die Zustimmung Mustafa Kemals zu Verhandlungen über eine Austauschvereinbarung. Kemal machte dabei deutlich, dass es im künftigen türkischen Nationalstaat keinen Platz mehr für Griechen bzw. nichtmuslimische Minderheiten geben werde.

Das bestätigen auch Berichte, die am 10. Mai 1924 in der griechischen Zeitung Dimokratia (Istanbul) veröffentlicht wurden. Sie schildern die Verfolgung im Bezirk Akdağmadeni in der ehemaligen osmanischen Provinz Ankara:
"Der Hunger dezimiert weiterhin die noch verbliebenen unglücklichen Griechen. Nach der jüngsten Plünderung von christlichem Eigentum besitzen die Griechen nichts mehr, was sie verkaufen könnten. Frauen und Mädchen werden auf der Straße entehrt. Vor kurzem wurden vier Griechen in Kara Pir und drei weitere in Karaja Viran ermordet. Michalis Eftichidis nahm aus Nächstenliebe zweihundert hungernde Waisenkinder bei sich auf und bot ihnen Obdach; außerdem setzte er zwei Lehrer für ihre Betreuung ein. Doch zwei Monate später schloss die türkische Regierung sein Waisenhaus und überließ die Waisenkinder ihrem Schicksal. Mehrere Betroffene wandten sich daraufhin an die griechische Regierung. (Abteilung des Völkerbundes, vom 15. November). Eine Antwort auf dieses Ersuchen ging am oben genannten Datum ein, in der mitgeteilt wurde, dass der hellenische Geschäftsträger in Ankara entsprechende Maßnahmen ergriffen hat. Es ist jedoch weder eine Verbesserung eingetreten noch ist eine solche möglich. Nur die sofortige Durchführung des Austausches wird diese tragischen Überreste des anatolischen Hellenismus vor den tollwütigen Kannibalen Kemals retten." So lautete die Schlussfolgerung in „Dimokratia“.

Mit ihrem bilateralen Abkommen vom Januar 1923 beschlossen die Türkei und Griechenland schon nach damaligem Standard völkerrechtswidrig die wechselseitige Zwangsausweisung und den Entzug der Staatsbürgerschaft für ihre ethnisch-religiösen Minderheiten. Der darin vereinbarte wechselseitige Austausch religiöser Minderheiten betraf 1,6 bis zwei Millionen Menschen. Davon waren mindestens 1,2 Millionen griechisch-orthodoxe Christen osmanischer Staatszugehörigkeit und 400.000 Muslime aus Griechenland, ausgenommen die Muslime in Westthrakien (etwa 105.000–120.000) und die muslimischen Tschamen-Albaner, ebenso die damals noch etwa 110.000 Griechen Konstantinopels bzw. Istanbuls sowie die griechisch-orthodoxe Bevölkerung der Ägäis-Inseln Imbros (Gökçeada) und Tenedos (Bozcaada). Die meisten Griechen verließen Tenedos, kehrten jedoch nach einigen Jahre wieder zurück. In den 1950er Jahren wurde das Gros der griechischen Bevölkerung erneut vertrieben. 1992 wurde der Status von Imbros als Militärzone aufgehoben, und 1993 das Spezialvisum für die Insel abgeschafft. Auf Tenedos dagegen entspannte sich die Lage, nachdem der Europarat 2008 seine Resolution 1625 erließ, in der Maßnahmen festgelegt wurden, die zur Verbesserung und auch zur Wiedergutmachung von angerichteten Schäden am griechischen Erbe der Insel führen sollten. Viele ausgewanderte Inselbewohner renovierten ihren Besitz und verbrachten zumindest die Sommer auf Tenedos. 2012 wurde in Zeytinliköy / Áyii Theódori die erste griechische Schule seit 1965 eröffnet.

Von Smyrna nach Lausanne und darüber hinaus: „Entmischung“

Die Bestimmungen der Lausanner Verträge beruhen auf dem Grundsatz der „Entmischung“ bzw. Segregation; ethnisch-religiöse Entmischung wurde damals als Voraussetzung für innenpolitische Stabilität betrachtet.

Nach der Zerstörung und Brandschatzung der christlichen Viertel der ionischen Haupt- und Hafenstadt Smyrna durch kemalistische Einheiten Mitte September 1922 war niemand mehr auf der internationalen Bühne bereit, für das Existenzrecht der verbliebenen griechisch-orthodoxen oder anderer Christen in Kleinasien zu kämpfen. Nur zwei Monate nach dem „Holocaust von Smyrna3“ erließ die türkische Nationalversammlung in Ankara am 1. November 1922 den Beschluss, die gesamte verbliebene christliche Bevölkerung aus Kleinasien zu vertreiben, deren Anzahl das US-amerikanische Hilfswerk Near East Relief zu diesem Zeitpunkt auf noch etwa eine halbe Million Menschen schätzte4. Ende 1922 kam Fridtjof Nansen zu dem Schluss, dass die verbliebenen Griechen Kleinasiens dem Untergang geweiht seien, wenn sie nicht evakuiert würden bzw. wenn nicht die Bevölkerung des Osmanischen Reiches „entmischt“(unmix) würde.

Doch selbst unter denjenigen osmanischen Christen, die bereits während und nach dem Ersten Weltkrieg nach Griechenland oder in andere Länder entkommen waren, lag die Sterblichkeitsrate hoch, denn die vielfältigen Entbehrungen, denen die Flüchtlinge oder die ab 1923 "ausgetauschten" osmanischen Griechen ausgesetzt waren, waren gewaltig. Das musste Nansen selbst zugeben. In seiner Erklärung vor dem Rat des Völkerbundes teilte er diesem Gremium mit, dass allein von September 1922 bis Juli 1923 "bis zu 70.000 [Flüchtlinge] an Krankheiten und Schwäche infolge von Unterernährung gestorben sind."5 In den letzten Monaten des Jahres 1923 lag die Sterblichkeitsrate unter der Flüchtlingsbevölkerung bei 45 Prozent; 70 Prozent der Todesfälle waren auf Malaria zurückzuführen, 25 Prozent auf Typhus, Paratyphus und Ruhr sowie fünf Prozent auf andere Krankheiten6.

Die Lausanner Friedenskonferenz endete nach zwei Verhandlungsrunden – vom 20.11.1922 bis 4.2.1923 und vom 23.4. bis 24.07.1923. Dank der Aufhebung der osmanischen Kapitulationen war der Ausgang für die Türkei außerordentlich günstig. Diese Handelskapitulationen hatten dem europäischen Handel im Osmanischen Reich erhebliche Vorteile, insbesondere bei den Zöllen, gegenüber den einheimischen Kaufleuten eingeräumt.

Auch der im – türkischerseits unratifizierten – Sèvrer Friedensvertrag (1920) noch vorgesehene armenische Staat unter Einschluss osmanischer Gebiete konnte nun abgeschmettert werden. Zwar hatte der Unterausschuss für nationale Angelegenheiten der Lausanner Konferenz sich vom 12. bis 14. Dezember 1922 mit der armenischen Forderung nach einer Heimstätte für die überlebenden Armenier befasst, und am 6. Januar 1923 hatten die alliierten Delegierten für eine äußerst bescheidene „armenische Heimstätte“ (Foyer arménien) unter türkischer Souveränität gestimmt, doch auch diesen Kompromiss nahm die selbstbewusste türkische Delegationsleitung unter Ismet Inönü und dem ultranationalistischen Historiker Rıza Nur zum Anlass, um die Sitzung zu unterbrechen und unter Protest zu verlassen7. Auf der Sitzung vom 7. Juli 1923 war dann endgültig nicht mehr vom Recht auf Selbstbestimmung oder auf eine Heimstätte die Rede, sondern nur noch von "armenischen Flüchtlingen". Die Lösung dieses Problems wurde dem Völkerbund anvertraut.

Im Vertrag von Sèvres (1920) wurde Griechenland außerdem der Großteil Ostthrakiens, mit Ausnahme Konstantinopels sowie der entmilitarisierten Meerenge des Bosporus zuerkannt. Der Lausanner Vertrag hob diese Regelung zugunsten der Türkei wieder auf, die nun erneut in den Besitz ganz Thrakiens östlich der Mariza gelangte.

Am 13. August 1923 hielt Mustafa Kemal eine lange Rede vor der Großen Nationalversammlung, in der er mit Erleichterung und Freude feststellte: "Endlich haben wir die Griechen von Pontos entwurzelt."8 In Istanbul gelang den Kemalisten die Entwurzelung der Griechen jedoch erst nach mehreren Anläufen.

1946 gab die von Mustafa Kemal gegründete sozialdemokratische Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei; CHP) ihren „Minderheitenbericht" (Azinliklar Raporu) heraus, in dem die CHP folgende Ziele für die in der Türkei verbliebenen Griechen formulierte:
"Die Zahl der Griechen in Anatolien ist unbedeutend. In Zukunft wird es nirgendwo eine Bedrohung [durch sie] geben. Deshalb muss unsere Aufmerksamkeit auf die Griechen [Rumlar] in Istanbul gerichtet werden. Wegen ihrer Nähe zu Griechenland und wegen ihres hohen Anteils an der Bevölkerung müssen wirksame Vorsichtsmaßnahmen ernst genommen werden. In diesem Fall kann man nur sagen, dass Istanbul bis zum 500. Jahrestag seiner Eroberung von allen Griechen geräumt werden muss."9 Die CHP stand in personeller sowie ideologischer Kontinuität zu den Jungtürken (offiziell: Komitee für Einheit und Fortschritt, KEF).

Die nach 1923 in der Türkei verbliebenen griechisch-orthodoxen Christen wurden in den folgenden Jahrzehnten mit verschiedenen Maßnahmen diskriminiert und zur Auswanderung gedrängt, oft in Verbindung mit Zypern-Krisen. Denn immer, wenn die diplomatischen Entwicklungen an der „Zypernfront“ als ungünstig für die türkischen Interessen oder als Bedrohung für die türkisch-zyprische Gemeinschaft empfunden wurden, machte man in der Republik Türkei die griechisch-orthodoxe (rum-orthodoxe) Gemeinschaft zur Zielscheibe von Repressalien.

Ein türkischer Parlamentsbeschluss schloss 1932 griechische Bürger von dreißig Handels- und anderen Berufen aus. Der größte Teil des Eigentums bereits aus der Türkei vertriebener Griechen wurde von der türkischen Regierung konfisziert, indem sie es als angeblich „aufgegeben“ bzw. „verlassen“ klassifizierte oder nachdem die Eigentümer per Gerichtsbeschluss als „Flüchtlinge“ eingestuft worden waren.

Vor allem die „Istanbuler Kristallnacht“ vom 6. auf den 7. September 1955 (griech. „Septembriana“), die sich hauptsächlich gegen die griechisch-orthodoxe Gemeinschaft richtete, trieb die Auswanderung der Christen voran. Hatten 1923 noch 110.000 Griechen in der Türkei gelebt, waren es 1992 nach einer Schätzung von Human Rights Watch nur mehr 2.500.

Unter dem Begriff des „Ikinci Ferman“, des zweiten Deportationsbefehls, begannen 1925 in der Region Sassun am Südrand des Armenischen Hochlandes Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen. Sie betrafen nicht nur Kurden und Araber, sondern auch die Reste der armenischen Bevölkerung, die den jungtürkischen Genozid im Ersten Weltkrieg überlebt hatten. Nach 1925 wurden in Sassun ganze armenische Dörfer zerstört, und die gesamte Bevölkerung wurde im Zuge der Niederschlagung eines kurdischen Aufstands (1925-1937) nach Westanatolien zwangsumgesiedelt. Die Drohung der Behörden, sie in das Konzentrationslager Kütahya zu bringen, veranlasste damals Hunderte von christlichen Sassun-Armeniern, ihren Glauben zu wechseln.

Doch nicht nur Sassun war von neuerlichen Deportationen betroffen. In einer Depesche vom 14. November 1929 aus Aleppo berichtete der britische Konsul A. Monck-Mason, dass in den vorangegangenen sechs Monaten kontinuierlich armenische Flüchtlinge aus den Regionen Kharput, Diyarbekir und Mardin eingetroffen seien. Seiner Meinung nach "scheint es die erklärte Politik der türkischen Regierung zu sein, alle christlichen Elemente in den entfernten anatolischen Provinzen mit allen Mitteln loszuwerden, die nicht zu absoluten Massakern führen (...)". Aleppo, so fährt er fort, sei der Zufluchtsort für die täglich eintreffenden Karawanen von Armeniern gewesen. Ganze Familien waren krank, und fast alle völlig mittellos. Der Konsul zitierte einen Armenier aus Harput, dem heutigen Elazığ, mit den Worten: "In der Türkei haben wir heute keine Existenzgrundlage; wir werden verfolgt, ausgeraubt, misshandelt, ins Gefängnis geworfen, verurteilt und, wenn wir Glück haben, deportiert.“ In Kirchen wurden Bomben geworfen, und sieben betrunkene Soldaten ermordeten den armenischen Bischof von Diyarbekir. Schätzungen zufolge wurden bei den Deportationen von 1929-30 30.000 Armenier aus den Gebieten von Harput, Diyarbakır und Mardin vertrieben.

Wie diese Beispiele zeigen, wurden in der jungen Republik Türkei Deportationen und Vertreibungen zum gängigen Instrument der Nationalitäten- und Minderheitenpolitik. Das Deportationsgesetz von 1934 war als Assimilationsinstrument zur "Verbreitung der türkischen Kultur" gedacht, insbesondere in den vom Innenministerium festgelegten Gebieten für die Ansiedlung von nichttürkischen oder heterodoxen muslimischen Deportierten, die anschließend türkisiert werden sollten, wie es für "die Gebiete im Westen, insbesondere das Mittelmeer und die Ägäis, das Marmarameer und Thrakien [Trakya]"10 vorgesehen war. Andere Gebiete im Osten und Südosten Anatoliens sowie im Armenischen Hochland, darunter "Ağri [in der Nähe des Berges Ararat], Sason [Armenisch: Sassun], Tunceli (früher Dersim), Van, Kars, der Süden von Diyarbakır, Bitlis, Bingöl und Muş" sollten aus "gesundheitlichen, wirtschaftlichen, kulturellen, militärischen und sicherheitspolitischen Gründen" "entvölkert" werden. In diesen ehemals kurdischen bzw. armenisch-christlichen Gebieten sollte keine weitere Besiedlung zugelassen werden. Das Ergebnis der fortgesetzten massiven Deportation und Aussiedlung von Hunderttausenden Menschen seit den Balkankriegen war eine wahrhaft entwurzelte Bevölkerung.

Unter dem Einfluss des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus wurde die Türkische Republik in den 1930er Jahren zu einem offen faschistischen Staat mit dem Kemalismus als türkischer Variante. Dieses rassistische Regime verübte 1937/38 nach einer zehnjährigen Planungs- und Vorbereitungszeit einen Völkermord an der alevitischen Mehrheitsbevölkerung der zentralanatolischen Region Dersim. Diese wurden damals als Kizilbaschen, als Rotköpfe, bezeichnet und als Ketzer verfolgt. Hierin liegt der religiöse Ursprung der Dersim-Frage. Während der so genannten Modernisierungsära verstärkte sich der Druck, da im Zuge des Nationsbildungsprozesses der türkische Nationalismus zunahm. Ähnlich wie in der Sowjetunion galten Natur- und Stammesvölker als vormodern bzw. rückständig, woraus die kemalistische Türkei die Rechtfertigung für deren gewaltsame „Modernisierung“ ableitete.

Die nicht-muslimische und nicht-türkische Identität sowie die Stammesgesellschaft von Dersim waren für die Islamisten und die chauvinistischen Herrscher der Türkei nicht akzeptabel. Einen dritten Grund für die zunehmende Nichtakzeptanz und Verfolgung bildete die Tatsache, dass Dersim während des Ersten Weltkriegs, während des osmanischen Völkermords, ein Zufluchtsort für Armenier war. Vielen Armeniern gelang es damals, von Dersim aus hinter die russische Frontlinie zu fliehen. Diejenigen, denen dies nicht gelang, assimilierten sich an die alevitische Bevölkerung. Die kemalistische Türkei hat dies den Dersimis nie verziehen.

Dersim wurde wiederholt Opfer von Strafexpeditionen. In seinem Bericht gab der türkische General Ömer Halis Bıyıktay zu, dass "die Dersimer bis 1930 mindestens 40 Massaker erlitten haben." Kurz nach der Strafexpedition des türkischen Militärs von 1937/38 gegen einen angeblichen Kurdenaufstand in Dersim schrieb der türkische Journalist Latif Erenel in seiner Zeitung Tan: "Nach dem, was ich in Dersim erfahren habe, haben 108 Militäroperationen gegen das Munzur-Gebirge stattgefunden. Aber in keiner dieser Kampagnen konnte die Armee weit in das Land vordringen."

Laut Şükrü Kaya, 1915 Verwalter der Konzentrationslager für armenische Deportierte in Syrien und Innenminister von 1927 bis 1938, "fanden zwischen 1876 und 1935 elf militärische Strafexpeditionen gegen Dersim statt." Laut den Berichten des Ersten Generalinspekteurs Dr. İbrahim Tali Öngören, die zwischen 1928 und 1933 verfasst wurden, gab es in Dersim keinen einzigen Stamm, der in den letzten 20 bis 30 Jahren, also zwischen 1895 und 1933, nicht "bestraft" worden wäre.

Schon die Tatsache, dass keines der türkischen Waffenstillstandsangebote oder gar Amnestie- oder Entschädigungsversprechen eingehalten wurde, spricht für die Entschlossenheit zur vollständigen Vernichtung. Auch der betagte Stammesführer Pir Sey(it; Seyid) Riza (*1862 in Derê Arí, Kreis Lirtik/Ovacık; †1937), der schnell als Anführer eines angeblichen "Aufstandes" denunziert wurde, ließ sich von solchen trügerischen Zusagen täuschen.

Bei Wintereinbruch stellte er sich mit 50 Getreuen in Erzincan ein, wurde aber prompt verhaftet und am 16. November 1937 in Elazığ zusammen mit elf weiteren zum Tode Verurteilten, darunter sein Sohn Resik Hüseyin, gehängt. Ihsan Sabri Çaglayangi, der als junger Beamter den Schnellprozess gegen Sey Riza und seine Mitangeklagten organisiert hatte und später zum türkischen Außenminister aufstieg, überlieferte in seinen Memoiren die letzten Worte Sey Rizas, bevor dieser sich selbst die Schlinge um den Hals legte: "Wir sind die Söhne von Karbala. Wir sind unschuldig. Es ist beschämend. Es ist grausam. Es ist Mord!"

Der Feldzug des türkischen Militärs endete in der letzten Augustwoche des Jahres 1938. Der damalige Regierungschef Celal Bayar gestand in seinen Memoiren, dass in der blutigsten Phase, d. h. zwischen dem 23. und 31. August 1938, er selbst, Mustafa Kemal und der Oberbefehlshaber, Marschall Fevzi Çakmak, gemeinsam die militärischen Operationen in Dersim leiteten und dass es Mustafa Kemal, der Gründervater der Republik und "Vater aller Türken", war, der den Befehl zum Töten gab. Tonaufnahmen eines Berichts von 1986 mit dem Zeitzeugen Ihsan Sabri Çağlayangil belegen den Einsatz von Giftgas durch die Armee. Wörtlich heißt es dort: "Sie hatten sich in Höhlen geflüchtet. Die Armee setzte Giftgas ein. Durch den Eingang der Höhle. Sie vergifteten sie wie Mäuse. Sie schlachteten diese Dersim-Kurden (im Alter von sieben bis siebzig Jahren) ab. Es wurde eine blutige Operation."

Luftangriffe spielten dabei eine entscheidende Rolle. Sie wurden von Mustafa Kemals Adoptivtochter Sabiha Gökçen geflogen, der ersten Kampfpilotin der Welt. Kemal hatte Gökçen, die 1913 in Bursa geboren wurde, im Alter von zwölf Jahren adoptiert. Als der armenische Journalist Hrant Dink 2004 enthüllte, dass Gökçen armenischer Abstammung und ein Waisenkind des Völkermordes war, löste dies in der Türkei einen Sturm der Entrüstung aus. Unabhängig von Gökçens ethnischer Herkunft erweist sich der kemalistische Völkermord in Dersim als eine Fortsetzung des Völkermords der Jungtürken. In beiden Fällen wurden die gleichen Methoden angewandt.

2011 erklärte der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, dass laut offiziellen Dokumenten in den Jahren 1937-1938 13.806 Menschen getötet und 11.683 Menschen in den Westen der Türkei zwangsumgesiedelt wurden. Nach den Recherchen von Nezahat und Kazim Gündoğan ist aber die Zahl der Ermordeten zwei- bis dreimal höher als offiziell angegeben, und die Zahl der Deportierten liegt bei etwa 20.000.

Die Nachkommen der alevitischen Opfer in Dersim gedenken am 4. Mai (1938) des Völkermordes von 1937/38 als "Tag, an dem die Welt unterging" (Tertelê).

Nach der Besetzung Griechenlands durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg zeigten Teile der aufstrebenden Eliten in der benachbarten Türkei zunehmend Sympathie für die Nazis. Am 12. November 1942 wurde auf der Grundlage des Gesetzes 4305 eine zusätzliche Steuer eingeführt, die ausschließlich bei Nicht-Muslimen erhoben wurde. Dieses Gesetz betraf 4 bis 5 Tausend von schätzungsweise 28.000 Armeniern, Griechen, Juden und sogar Dönme (zum Islam konvertierte Juden oder Christen), wobei die Armenier die höchsten Steuern zahlen mussten. Diejenigen, die nicht zahlen konnten, wurden verbannt oder zur Zwangsarbeit im "Sibirien der Türkei" verurteilt, nämlich in den Steinbrüchen von Aşkale bei Erzurum. Dort starben 21 Zwangsarbeiter. Laut dem damaligen türkischen Regierungschef Şükrü Saracoğlu diente die Steuer nicht der Finanzierung der Kriegskosten, sondern der Türkisierung der Wirtschaft, da nur 8.000 der 19.000 in Istanbul registrierten Unternehmen türkischen Muslimen gehörten. Die "Vermögenssteuer" wurde am 15. März 1944 abgeschafft, nachdem das Land mehr als sechs Milliarden aktuelle türkische Pfund eingenommen hatte.

In Zeiten internationaler Krisen in der Türkei - wie regelmäßig im Zusammenhang mit Zypern, mit Griechenland und seit 1991 mit der Republik Armenien – wurde und wird die armenische Minderheit in der Türkei erneut zur Zielscheibe von Gewalttaten, die vom Staat toleriert werden oder sogar von ihm verursacht werden. So griff in der so genannten "Kristallnacht" von Istanbul am 6. September 1955 ein mit Schaufeln und Äxten bewaffneter Mob griechische und armenische Wohnviertel an, plünderte Geschäfte und tötete drei Menschen. Die Ausschreitungen führten zur Plünderung von 4.000 griechischen, armenischen und jüdischen Geschäften, zur Brandstiftung, Plünderung und Schändung von 24 griechischen und vier armenischen Kirchen, zur Schändung zahlreicher Friedhöfe, zur Zerstörung von 32 griechischen und acht armenischen Schulen und zu über 300 Verletzten. Der Gesamtschaden belief sich auf 270 bis 360 Millionen Dollar. Auslöser der Unruhen war die vorsätzliche Verbreitung einer Falschmeldung durch die türkische Geheimpolizei über einen angeblichen Überfall von Griechen auf das Geburtshaus von Mustafa Kemal " Atatürk " in Thessaloniki.

Fazit

Mustafa Kemal war mit den Ergebnissen der Lausanner Friedenskonferenz sowie ihres Schlussdokuments höchst zufrieden, denn diese bildeten eindeutig einen Gewinn für ihn persönlich und den türkischen Nationalstaat: „Dieser Vertrag ist das Dokument über das Misslingen eines großen Anschlags, den man seit Jahrhunderten gegen die türkische Nation vorbereitet hatte und den man glaubte, mit dem Vertrag von Sèvres vollendet zu haben. Dies ist ein politischer Sieg, der in der Geschichte des Osmanischen Reiches nicht seinesgleichen hat.”11 Ismet Inönü, der türkische Verhandlungsleiter in Lausanne, verkündete: „Wir haben einen Sieg errungen, denn wir haben die Kurdistan-Frage und die Armenien-Frage in der Geschichte begraben – dank England und Frankreich.”12

Jede menschenrechtlich orientierte Bewertung des Vertrages muss jedoch zu einem äußerst negativen Ergebnis gelangen. So stellt der Schweizer Turkologe Hans-Lukas Kieser fest, dass Lausanner Friedensvertrag vom 24. Juli 1923 rückwirkend " (...) die Vertreibung und Liquidierung von Millionen von Menschen zu Gunsten einer halsbrecherischen ‚nationalen Erneuerung‘, die eine dominante Elite auf Kosten der Minderheiten betrieb. (…) Von der Rückkehr armenischer Flüchtlinge und der Schaffung von Gerechtigkeit war keine Rede mehr. Der Vertrag sah zudem einen griechisch-türkischen, in der großen Dimension erstmaligen Bevölkerungstransfer vor, der eine großenteils schon erfolgte ‚ethnische Säuberung‘ legalisierte. Mit Bezug auf die Gespräche über kurdische, armenische und griechische Minderheiten in seinem Land notierte sich Rıza Nur, der Generalsekretär [und Vizechef] der türkische Konferenzdelegation, dass ‚diese fremden Elemente eine Plage und Mikroben‘ seien und dass man die Kurden mittels ‚Assimilationsprogramm von der fremden Sprache und Rasse reinigen müsse‘.“13

Trotz seiner erheblichen Defizite galt der Vertrag anderen Zeitgenossen aber als positives Beispiel gelungener ethnischer Segretation und diente als Vorbild für weitere „Entmischungen“ nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich gegen das Heimatrecht von fast acht Millionen Ostdeutschen und anderthalb Millionen Polen aus Galizien und der heutigen West-Ukraine richteten. Derselbe Winston Churchill, der 1920 die „Massakrierung unzähliger Tausender wehrloser Armenier“ auf ihren Deportationen klarsichtig als administrativen Holocaust bezeichnete, erklärte schon lange vor der Potsdamer Konferenz vom Juli-August 1945, die auszusiedelnden Ostdeutschen sollten nur eine kurze Frist erhalten, „um das Nötigste zu nehmen und zu gehen. Das hat sich vor Jahren in der Türkei bewährt und wird sich auch jetzt wieder bewähren.“14 Wie man sieht, hat die nachträglich durch einen internationalen Vertrag „legalisierte“ organisierte Massengewalt und Willkür, mit der im Ersten Weltkrieg das jungtürkische Regime und anschließend die kemalistischen Nationalisten ethno-religiöse „Entmischungen“ betrieben, Schule gemacht.

Die kollektiven und individuellen Rechte der nicht-muslimischen Minderheiten garantiert der Lausanner Vertrag in seinem dritten Abschnitt in den Artikeln 37 bis 40. Sie enthalten detaillierte Vorschriften zum Schutz der jeweiligen Religion bzw. Konfession und der damit verbundenen liturgischen Sprachen, die jedoch von allen folgenden türkischen Regierungen systematisch verletzt wurden. So verstößt etwa die Vermögenssteuer Varlik Vergisi gegen Art. 39 und 40 des Lausanner Vertrages.

Ebenfalls in eklatanter Verletzung oder systematischer Aushöhlung der vertraglich garantierten Minderheitenrechte erfolgte die jahrzehntelange Beeinträchtigung der Tätigkeit religiöser christlicher Institutionen, namentlich des Ökumenischen Patriarchats zu Konstantinopel – das sich offiziell nur als „rum-orthodoxes Patriarchat“ bezeichnen darf – sowie des Armenischen Patriarchats von Istanbul und ihrer jeweiligen Bildungseinrichtungen. Statt einklagbarer Rechte wurden in konfliktfreien Zeiten Gnadenakte gewährt. Charakteristisch ist leider noch immer diese Aussage einer Istanbuler Armenierin vom Sommer 2002: "Wir sind Geiseln in ihren Händen. Gewiss, sie erlauben uns in unseren Kirchen zu beten. Und wir dürfen auch für unsere Schulen bezahlen. Aber das ist alles. Sie machen mit uns, was sie wollen."15

Keine der ehemaligen Lausanner Vertragspartner der Türkei hat sich jemals um die Verstöße gegen die Minderheitenschutzbestimmungen des Lausanner Vertrages gekümmert und die Türkei zur Einhaltung des Lausanner Vertrages gezwungen. Bisher ist nicht erkennbar, ob sich die Pläne Recep Tayyip Erdoğans zur Revision des Lausanner Vertrages auch gegen dessen Artikel zum Minderheitenschutz wenden. Bereits 2017 hatte Erdoğan Änderungen im bilateralen griechisch-türkischen Abkommen gefordert.16 Doch unabhängig vom Umfang solcher Pläne, jede Veränderung eines wirksam geschlossenen Vertrages bedarf bestimmter Voraussetzungen und Verfahren. Eine terminierte Gültigkeitsdauer ist im Lausanner Vertrag nicht vorgesehen.

Von Tessa Hofmann
AGA-Veranstaltungsreihe | 11.11.2023
https://virtual-genocide-memorial.de/

 

  1. Schwartz, Michael: Die Balkankriege 1912/13: Kriege und Vertreibungen in Südosteuropa., Militärgeschichte – Zeitschrift für historische Bildung“. 2008, Ausg. 2, S. 9
  2. Clark, Bruce: Twice a Stranger: How Mass Expulsion Forged Modern Greece and Turkey. London, 2006, S. 44
  3. Der Ausdruck wurde von dem neuseeländischen anglikanischen Militärpfarrer Charles Dobson geprägt, der als Augenzeuge in einem Londoner Verfahren über die Brandursachen aussagte. Vgl. auch Dobson, Charles: The Smyrna Holocaust. In: Bierstadt, Edward Hale: The Great Betrayal: Economic Imperialism & the Destruction of Christian Communities in Asia Minor. New York: Robert M. McBride and Co., 1924 (Reprint: Bloomingdale, Il.: The Pontian Greek Society of Chicago, 2008), S. 224-227
  4. Expulsion of Christians. – “The Times”, November 3, 1922, S. 13
  5. League of Nations, Official Journal, 4th Year, No. 8 (August 1923), Annex 534, "Greek Loan for Refugees", S. za 1014
  6. League of Nations, Greek Refugee Settlement, Publications of the League of Nations, Geneva, 1926, S. 93
  7. Kieser, Hans-lukas: Rıza Nur – Arzt, Minister, Rassenhistoriker. „Armenisch-Deutsche Korrespondenz: Vierteljahreszeitschrift der Deutsch-Armenischen Gesellschaft. Jg. 2023, Nr. 199, Heft 2, S. 28
  8. Aus einem Bericht des französischen Oberst Mougin; hier zitiert nach: Tsirkinidis, Der Völkermord an den Griechen Kleinasiens (1914-1923), In: Hofmann, Tessa (Hg.): Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912-1922. 2. Aufl. Münster: LIT, 2007, S. 173
  9. Zitiert nach: Bulut, Faik: Kürt Sorununa Çözüm Arayışları / Devlet ve Parti Raporları Yerli ve Yabancı Öneriler 1920-1997 [Suche nach einer Lösung für die Kurdische Frage]. Istanbul: Ozan Yayıncılık, 1998, S. 178; Akar, Ridvan: Bir Resmi Metinden Planli Türklestirme Dönemi [Die geplante Phase der Türkisierung, wie im offiziellen Dokument vorgesehen], “Birikim”, Sayi 110 (1998), S. 68-75
  10. Zitiert nach: Aslan, Fikret; Bozay, Kemal u.a.: Graue Wölfe heulen wieder: Türkische Faschisten und ihre Vernetzung in der BRD. 2., aktualisierte Aufl. (Münster 2000), S. 38
  11. Steinbach, Udo: Die Türkei im 20. Jahrhundert. Bergisch-Gladbach 1996, S. 137
  12. Paech, Norman: 100 Jahre Vertrag von Lausanne – was dann? „ANF News“, 13.11.2021, https://anfdeutsch.com/aktuelles/100-jahre-vertrag-von-lausanne-was-dann-29301
  13. Rıza Nur: Hayat ve Hatiratim, Bd. 2, Istanbul, 1992, S. 260; zitiert nach: Kieser, Hans-Lukas: Armeniermord: Von der Lästigkeit vertuschter Geschichte. „Traverse: Zeitschrift für Geschichte“, 2002, 2, S. 131-142; hier: S. 135
  14. Zitiert nach: Darnstädt, Thomas; Wiegrefe, Klaus: „Eine teuflische Lösung“: Spiegel-Serie über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. (III). „Der Spiegel“, Nr. 15, 8.4.02, S. 58
  15. “Armenian International Magazine”, Paris, August-September 1994, S. 61
  16. Erdogan stellt Abkommen mit Griechenland infrage. „Welt“, 7.12.2017, https://www.welt.de/politik/ausland/article171361243/Erdogan-stellt-Abkommen-mit-Griechenland-infrage.html; Gökmen, Murat: 100 Jahre Vertrag von Lausanne – und dann? „dtj-online“, 31.01.2023, https://dtj-online.de/100-jahre-vertrag-von-lausanne-und-dann/

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